Zuviel

Der Sonnenschein brach durch die glaslosen Fenster der Kapoors. Jaspal war an diesen Morgen sehr unwohl. „Heute könnte es soweit sein“ dachte er. Jaspal sah zu seiner Frau hinüber, Janani schlief noch. Die Sonnenstrahlen bemalten ihr Gesicht. Sie sah so friedlich aus. Eigentlich hatte er sich für seine Frau gewünscht, dass sie in einem Krankenhaus gebären könnte, aber das Paar hatte keine Kranken-versicherung und hätte eine solche Behandlung niemals bezahlen können. Doch ein Kind versorgen das ginge?

Ja! Jaspal hatte sich das schon in Gedanken zurechtgelegt. Wenn das Kind Zuhause in der Hütte auf die Welt kommt wird es dort erstmal von Janani und deren Mutter versorgt. Wenn es dann acht Jahre alt ist kann man vielleicht schon versuchen ihm erste Arbeiten zu geben. Mit zehn kann es dann schon in einer Fabrik oder im Stollen anfangen und dann somit zum Familienunterhalt beitragen. In die Schule wird es vermutlich nicht gehen können, als Junge vielleicht zwei/drei Jahre höchstens. Vorausgesetzt das Geld reicht.

Ja, so hatte er sich das für sein erstes Kind vorgestellt. Bei den anderen würde er es dann genau so machen. Auf diese Weise ist schließlich auch er groß geworden. „es wird doch hoffentlich ein Junge“ dachte er, „die können mehr arbeiten“. In Dharavi, einem Stadtteil von Mumbai, ist dies eine weit geteilte Ansicht. Kinder müssen ihre Familien in den Slums oft unterstützen und können deshalb auch nur bedingt oder gar nicht zur Schule gehen.

Doch Jaspal lebte sogar in diesem Viertel, welches keine hohen gesellschaftlichen Standards aufweist, am Rande der sozialen Schicht. Eigentlich hätten sich Jaspal und Janani gar keine Kinder leisten können, aber die schlechten Aufklärungsmaßnahmen in ihrem Stadtteil und die Absicherung im Alter hatten – wie bei den aller meisten Paaren – hier die Entscheidungs-gewalt auf ihrer Seite.

Janani räkelte sich im Bett. Eigentlich müsste Jaspal schon bald mit seiner Arbeit als Feldarbeiter beginnen, doch er wollte seine Frau heute nur ungern alleine lassen. Jananis Schicht in der Kleiderfabrik begann immer später als Jaspals Arbeitstag. „naja, vielleicht ist es heute doch noch nicht soweit“ empfand Jaspal als er nochmal einen liebevollen Blick auf seine Frau warf. Er beschloss die Arbeit auch heute wie gewohnt anzutreten, nahm seine Tasche und erfasste die provisorische Holztür.

Im selben Moment vernahm er einen gequälten Schrei. Er drehte sich schlagartig um. Seine Frau war durch die Wehen aufgewacht und saß jetzt schmerzgekrümmt auf der Matratze. Sofort ließ Jaspal alles fallen und rannte zu ihr. Mithilfe ihrer Mutter und der Krankenschwester vor Ort brachte Janani nach vier Stunden ihr erstes Kind zur Welt. Ein Mädchen. Als Jaspal es sah war er zunächst glücklich, doch auch ein wenig beunruhigt.

Ein Mädchen bedeutete unter Umständen weniger Zugewinn, da diese manche Arbeiten nicht so gut ausführen konnten wie Jungen. Außerdem ist es Indien brauch, dass die Familie der Tochter, sofern sie heiratet die ganzen Kosten für die Hochzeit trägt. Was unter Umständen eine beträchtliche Summe umfasst. Ein weiterer Schrei. Jaspal wurde bleich als ihm aufging, dass er nicht Vater von einer Tochter geworden war, sondern von zwei.

Nein, darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Zwei Töchter im gleichen Alter, bedeuteten auch zwei Aussteuern in kurzer Entfernung. Jaspal musste sich sammeln. Er hatte sich entschieden noch ein wenig zu arbeiten, schließlich brauchten die Kapoors seinen Lohn jetzt mehr denn je. Als es draußen schon dunkel war kam er zurück. Seine Frau mit den wenigen Stunden alten Mädchen auf dem Arm.

Erschöpft, aber auch sehr glücklich sah sie aus. Jaspal hatte während seiner Arbeit viel nachgedacht und seine Situation immer wieder überdacht. Er hatte versucht die Sorgen, die ihm seit der Geburt der Zwillinge durch den Kopf ging mit den ausge-klügelsten Ideen aus der Welt zu schaffen. Aber er fürchtete, dass er heute Abend noch mit seiner Frau ein Gespräch führen müsste mit dem er Gefahr laufen könnte sie zu verlieren. „Janani“ sagte er leise „es geht nicht.“ Seine Frau starrte ihn an. In ihren Augen wechselten sich Trauer, Furcht und Hilflosigkeit ab. „bitte nicht!“ als wüsste sie worauf diese Unterhaltung mit ihrem Mann hinführen sollte. „sieh sie dir doch an, es sind so liebe Kinder.

Wir können bestimmt noch einen Weg finden! Es … es wird einen geben.“ Ihre Worte klangen stark doch ihre Stimme verrät, dass sie wusste, dass es keinen Sinn hatte. „Janani wir können die Kosten nicht bewerkstelligen, es tut mir unendlich leid, ich will das doch genau so wenig wie du! Wirklich.“ Janani brach in Tränen aus. Jaspal nahm ihr das zweitgeborene aus den Armen. Janani fiel auf die Knie und drückte, das andere Kind noch immer im Arm haltend, es ganz fest an sich. Jaspal trug das Kind vorsichtig nach draußen. Er hatte schon einmal gesehen, wie man das macht in einem Hinterhof bei Nacht … nachts geschieht es meistens, da bekommen die anderen am wenigsten davon mit. Er blickte in das kleine schlafende Babygesicht. Es war so friedlich. Jaspal spürte eine heiße Träne seine Wange hinunter wandern.

Auf dem kleinen Grabstein war der Name Harleen zu erkennen. Seit mittlerweile vier Tagen bewacht er die Ruhestätte des Säuglings.

 

Ein paar hundert Meter weiter beginnt ein anderer Säugling langsam heranzuwachsen. Amba wird das einzige Kind des Paares bleiben. Gerne hätte sie sich noch ein Geschwisterchen gewünscht, eine Schwester vielleicht. Zumal sie sich oft nicht ganz vollständig und leer fühlt. Dieses Gefühl wird sie auch wenn sie erwachsen ist nicht verlassen. Ihre erfüllende Hälfte durfte damals wegen der Gefahr, man könne keine zwei hohen Aussteuern bezahlen, nicht weiterleben. Amba heiratete nie.